Von Alfred Saam
Wie weit der Landesherr des Hochstifts Fulda sich ähnlich wie sein Vater finanziellen Vorteil aus der Wallfahrt zum Orensberg erhoffte, entzieht sich unserer Kenntnis. Wenn er sich überhaupt jemals Hoffnungen in dieser Hinsicht gemacht haben sollte, dann nur für kurze Zeit. Die in Grimmenthal eingehenden Wallfahrtsopfer sanken infolge der ständig weiter um sich greifenden religiösen Neuerung von 896 Gulden im Jahre 1521 auf 84 Gulden im Jahre 1524. Auf dem Orensberg dürfte es kaum anders gewesen sein.
Nicht geringe Hoffnungen wirtschaftlicher Art mag der mehrfach erwähnte Brückenauer Pfarrer Kaspar Ziegler auf die neuaufgekommene Wallfahrt in seiner Pfarrei gesetzt haben. Zwar übernahm er im Herbst 1521 die Pfarrei Gersfeld, doch übertrug er die Seelsorge für ein Jahr dem dortigen Kaplan Johann Kilian und überließ ihm für diese Zeit auch fast alle Einkünfte aus dem Pfarrgut und aus Kapitalien sowie die von Gläubigen eingehenden Opfer. Seinen Einzug stellte er erst für Allerheiligen 1522 in Aussicht. Sein Verbleiben in Oberleichtersbach bzw. Brückenau verwundert zunächst zwar insofern, als er, wie oben erwähnt, nur Stellvertreter des eigentlichen Inhabers der Pfarrei war und dieser seinen Stellvertretern erwiesenermaßen nur einen geringen Teil der Einkünfte als Entlohnung ließ.
Aber dem Pfarrer oder, wenn dieser nicht in seiner Pfarrei residierte, dem die Seelsorge ausübenden Stellvertreter standen nach alter Gewohnheit alle im Gebiet der Pfarrei eingehenden Opfer zu. Eine Ausnahme bildeten nur die Opfer, die zur Aufbesserung des Vermögens einer frommen Stiftung, z.B. einer Kapelle, gegeben wurden. Doch konnte der Pfarrer auch hiervon einen gewissen Anteil als Entschädigung verlangen, wie es in Grimmenthal der Fall war. Die wirtschaftlichen Verhältnisse schienen sich für Ziegler also in Oberleichtersbach bzw. Brückenau wegen der sofort in ansehnlichem Umfang fallenden Opfer auf dem Orensberg weit günstiger zu entwickeln als in Gersfeld, wo er als fast Sechzigjähriger endlich eine eigene Pfarre besaß. Deshalb galt es für ihn, sich zunächst beide Möglichkeiten offenzuhalten.
Doch die bereits im Gang befindliche religiöse Neuerung ließ wie in Grimmenthal auch auf dem Maria Ehrenberg die Opfer sehr rasch zurückgehen, so dass sich Ziegler wohl bald endgültig für Gersfeld entschied. Dort versah er die Pfarrei bis zum Jahre 1532. Er verließ sie sehr wahrscheinlich unter dem Druck seiner Patronsherren, der Herren von Ebersberg, die sich um diese Zeit bereits der Reformation zugewandt hatten und übernahm die unter dem Patronat des Bischofs von Würzburg stehende Nachbarpfarrei Bischofsheim v. d. Rhön, wo er um 1560 fast hundertjährig starb, nachdem er noch 1556 in einem Streit zwischen der Frühmesse in Brückenau, die er einst versehen hatte, und der Stadt Brückenau ausgesagt hatte.
Die engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem damaligen Fuldaer Fürstabt und dem regierenden Grafen von Henneberg dürften die Wallfahrt nach Grimmenthal auch im Hochstift Fulda nicht wenig gefördert haben. Dass auch hier zahlreiche Wallfahrer kamen, beweist allein schon das von 1514 bis 1524 reichende Wunderbuch von Grimmenthal, in dem Wallfahrer wunderbare Gebetserhörungen durch die "Mutter der Barmherzigkeit von Grimmenthal" zu Protokoll gaben. In ihm findet sich eine ganze Reihe von Aussagen fuldischer Pilger, die für den Fall der Erhörung in einer ausweglosen Situation eine Wallfahrt nach Grimmenthal gelobt hatten.
Ein Fall trug sich in unmittelbarer Nähe des Maria Ehrenbergs zu. Der Betroffene, ein gewisser Johann Schoup aus Brückenau, gab selbst am 28. April 1520 zu Protokoll, dass "er of Freitag nach Letare (= 23. März) gehelich krank worden, darnider gefallen, sein Vernunft und Sprache nicht gebrauchen mögen, also dass man ihm das Licht (=Sterbekerze) zum dritten Mal in die Hand gegeben und alle Beiständer sich an ihm des Todes versehen. Also haben dieselben samt seinen Pfarrherrn ihn alldaher zur Mutter Gottes ins Gryntal gelobt, hätte er sobald wieder zur Vernunft und gesund gegriffen und des andern Tags von seinem Pfarrer mit den heiligen Sacramenten verwahret und mit der Zeit gesund worden." bei dem Pfarrer handelt es sich übrigens um niemand anders als um den oben erwähnten Kaspar Ziegler, von dem auch später noch die Rede sein wird.
Inwiefern ist nun die Wallfahrt zum Maria Ehrenberg eine Nachbildung der Wallfahrt nach Grimmenthal? Zunächst weist die an beiden Wallfahrtsorten angerufene "Mutter der Barmherzigkeit" auf einen Zusammenhang zwischen beiden. Dies gilt auch für den Typus des Gnadenbildes, der an beiden Orten nicht mit dem eigentlichen Bildtypus "Mutter der Barmherzigkeit" übereinstimmt. Denn dieser setzt wenigstens im Spätmittelalter ein Vesperbild, d.h. eine Darstellung Mariens mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß, voraus. Tatsächlich war das ursprüngliche Gnadenbild von Grimmenthal ein Vesperbild, das jedoch schon nach wenigen Jahren beim Neubau der großen Wallfahrtskirche, vermutlich wegen seiner geringen künstlerischen Qualität, gegen eine Plastik ausgetauscht wurde, die Maria mit dem Jesuskind darstellte. Nur die Pilgerzeichen von Grimmenthal, kleine metallene Anhängsel, von denen man noch im Jahre 1541 300 Stück bei dem Fuldaer Goldschmiedemeister Hans von Rohr anfertigen ließ, zeigten auch später noch ein Vesperbild.
Auf dem Orensberg dagegen nahm man, wohl kaum in Ermangelung eines anderen Gnadenbildes, sondern weil es in Grimmenthal so war, von vornherein eine Darstellung Mariens mit dem Jesuskind als Gnadenbild, obwohl die Verehrung der "Mutter der Barmherzigkeit" eigentlich ein Vesperbild voraussetzte. Die Nachbildung einer Wallfahrt, vor allem mit einem fernen Ziel durch Schaffung eines nahen Zieles, stellte im Spätmittelalter nichts Besonderes dar. So war beispielweise die berühmteste Wallfahrt des Spätmittelalters, die nach Santiago de Compostela, mit allen wichtigen Zwischenzielen innerhalb des Hochstifts Fulda nachgebildet, so dass auch der kleine Mann, dem eine kostspielige Fernwallfahrt nicht möglich war, sie in einer gewissen Weise nachvollziehen konnte. Schließlich geschah es 1521 nicht zum ersten Mal, dass man im Hochstift Fulda auf religiösem Gebiet etwas aus der Grafschaft Henneberg übernahm.
Die 1492 von Fürstabt Johann II. von Henneberg an der Fuldaer Stiftskirche errichtete Rittergesellschaft vom hl. Simplizius war nichts anderes als eine fast buchstäbliche Nachbildung der 1465 von seinem Bruder Wilhelm III. von Henneberg an der Klosterkirche von Veßra errichteten Rittergesellschaft vom hl. Christopherus.
Aus den folgenden fast anderthalb Jahrhunderten bis zum Jahre 1666, in dem, wie eingangs erwähnt, mit dem Bau einer Kapelle auf dem Maria Ehrenberg begonnen wurde, liegen zwar keine Nachrichten über die Wallfahrt vor, doch dürfte sie niemals ganz erloschen sein, selbst in der Reformationszeit nicht, wie dies auch bei den Wallfahrten zur Kapelle auf der Milseburg der Fall war. Von ihnen wissen wir, dass sie trotz der Schwierigkeiten, die die neugläubigen Besitzer der ebersteinischen Grundherrschaft den Wallfahrern bereiteten – die Milseburg lag mitten in der Grundherrschaft und war Besitz der sogenannten Ebersteinischen Erben -, während des Jahrhunderts der Reformation niemals ganz aufhörten.
Bei der Wallfahrt zum Maria Ehrenberg bestanden diese Schwierigkeiten nicht, da Grund und Boden der Kapelle dem Fuldaer Fürstabt gehörten und dieser auch in der Umgebung des Maria Ehrenbergs der größte Grundbesitzer war, so dass die übrigen Grundherren, die sich wie die Ebersteinischen Erben ebenfalls der Reformation zugewandt hatten, die Wallfahrt nicht in der gleichen Weise beeinträchtigen konnten wie die Ebersteinischen Erben.
Man wird annehmen dürfen, dass der Strom der Wallfahrer zum Maria Ehrenberg bereits in der Zeit der katholischen Erneuerung des Hochstifts Fulda gegen Ende des 16. Jahrhunderts wieder stärker wurde. Mit dem Neubau der Kapelle im Jahre 1666 trug man dem weiteren Aufblühen der Wallfahrt Rechnung.